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an ethnographic writing experiment between Germany and Kyrgyzstan

männer, die auf ziegen starren

[wildes Denken zu den Weltnomadenspielen 2016, Cholpon-Ata]

Kök Börü Ein Ziegenkadaver ohne Haupt und Unterschenkel liegt auf der staubigen Mitte des staubigen Spielfelds. Ohne Hörner, Zähne, Hufe fehlen dem Körper die härtesten Teile. Jene, die am meisten verletzen könnten; denn dann nahen auch schon die Reiter mit Staub und Gerten! Zwei Mannschaften zu Pferde preschen auf die Ziege zu – geschwind geschwind – um diejenigen zu sein, die das Tier im Ritt vom Boden in den Sattel fischen werden. Das tote Tier, den klobigen Ball.

Die ‚Tore‘ sind zwei große Löcher. Sie sehen aus wie Krater, oder Kessel, mit aufgeschütteten Wänden aus Erde und alten Autoreifen, die den Schlund zum Himmel geöffnet auf die Ziege warten. Die Ziege kommt zu Pferde zum Krater. Oder besser: Zu Pferden, weil kaum ein Reiter den Weg zum Tor-Loch ungestört bestreitet. Ist der schwere Tierkörper einmal in den Schoß gezogen, beginnt das wirkliche Gerangel und der eigentliche Wettkampf. Zerren. Drücken. Stoßen. Weg versperren. Schneisen in das Spielermeer hauen. Verklumptes Ringen um ein totes Tier, bis sich der Ballen aus Leibern bis zu einem Krater kämpft und zwanzig Kilogramm in seiner Höhlung verschwinden.

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Nächste Runde! Kadaver, gehe zurück auf staubiges Mittelfeld! Lasst die Spiele von neuem beginnen!

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Kymyz Der Geschmack ist sonderbar für ungewöhnte Zungen. Sauer, rauchig, streng und von strahlend weißer Dünnflüssigkeit. Kymyz ist ein Getränk aus gegorener Stutenmilch, das lebendig weiter lebt und älter werdend immer kräftiger wird. Ein Geschmack zum Gewöhnen: Beim ersten Mal befremdlich, um mit der Zeit frischer und frischer und vertrauter zu scheinen. Ich habe gelernt, ihn zu lesen. Stolzer Geschmack der Nation.

Es ist schwieriger und aufwändiger, Stuten zu melken, als Kühe. Eigenwilliger sind sie, und Euter und Zitzen sind klein. Ein Melkprozess verspricht nur einige hundert Milliliter, denn für mehr ist auf einmal gar nicht Platz. So heißt es, oft mit dem Eimer hinaus zur Herde zu gehen. Alter Geschmack der Hirten.

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Das sind zwei wilde Ks, das sind zwei wilde Geschichten aus einem wilden Kirgisistan. Kök Börü und Kymyz. Vom wilden Kirgisistan? Über das wilde Kirgisistan? Für das wilde Kirgisistan? Es sind zwei wilde Geschichten, die gern gehört und gern erzählt werden, von innen und von außen – von nahe und von fern:

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Nah Das Hippodrom ist riesig und vor dem Hintergrund meiner sonst so gebastelten, oft bröselnden Erlebnisse kirgisischer Infrastruktur unerwartet glatt. Unter Sonnensegeln erwarten makellos bunte Plastikstühle ihre Zuschauerinnen. Die Fassade, die nicht auf Pferderennbahn und Spielfeld blickt, ist pompös mit hellen Zinnen und Folkloremustern ausgestattet – blank geputzt und hell und beige. Weiße Markisen der Essensstände. Plov (Reisgericht), Manty und Samsy (Teigtaschen), Kymyz in etikettierten Plastikflaschen, Kymyz-Eis am kreativen Stand einer Mikro-Manufaktur aus der Hauptstadt, Cappuccini mit Schaum und Kakaohaube. Ein polierter, schwarz lackierter Eisenzaun umrahmt das Gelände: Polizisten mit Goldknöpfen und breiten Deckeln auf den uniformen Kappen. Sie durchsuchen die Taschen und machen offiziell.

Offizielle Polizisten, offizielle Kamerateams, offizielle Promoterinnen, offizielle Besucherinnenbefragung auf Touchpad-Fragebögen, offizielle Programmzettel auf Russisch und Englisch, offizielle Website, offizielle Ländervertreterinnen aus den ganzen Welt der Flaggen: Willkommen auf den zweiten Düjnölük Köchmöndör Ojundary (Weltnomadenspiele)!

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Zum ersten Mal 2014 und ebenfalls in Cholpon-Ata ausgerichtet, sind der Nomadenspiele ein junges Sportereignis – eine Arena zur Würdigung und Fortführung traditionell anerkannter, nomadischer Spiele. Mitmachen darf, wer sich auf die Spiele selbst versteht: Pferderennen, mehrere Brettspiele, viel verschiedene Ringkampfarten, Falkentraining, Hunderennen, Bogenschießen, Kök Börü. Praktizierter Nomadismus daheim ist keine Voraussetzung zur Teilnahme; es geht um die Form und die Plattform.

Die Plakate und Ankündigungen zieren seit Wochen die Seiten von Bussen, die Fassaden von Häusern, die Wände von Plastikflaschen in Kioskkühlschränken, Kühlschränke selbst. In den kirgisischen Fernsehkanälen wiederholt sich der aufwändige Werbespot mit jeder Werbeeinlage aufs Neue: Rot leuchtende Jurtenrippen und Tündüks (‚Jurten-Schlussstein‘), durch die blendende Sonnenstrahlen auf Filz und verräucherte Kräuter im Zeltinneren fallen; kreischende Falken und schwitzende Rücken; eine geworfene Ziege; ein Mann in Fell gekleidet erklimmt den schneebedeckten Gipfel eines Berges; Natur und starke Menschen. Es ist das wilde Kirgisistan aus Werbeprospekten, und das der Schulbuchseiten. Es ist das wilde Kirgisistan der Epen, die als Wandgemälde den Hauptplatz Bischkeks zieren und zu Statuen gegossen werden. Es ist das wilde Kirgisistan des 2016 neu gedrehten Kinofilms über die Kolonisierung der einstigen, edlen Bergnomaden durch russische Invasoren. Es ist das wilde Kirgisistan der Geschichte der jungen Nation. Es ist das wilde Kirgisistan, auf das man stolz sein kann! Es ist das wilde Kirgisistan der Welt der Kulturen und der Ethnizität – der Welt, in der man durch erkennbare, geteilte Verschiedenheit (tote Ziegen, Stutenmilch, viel Fell) eigenständig wird. Welt der Identität; hier die Welt von Fell, und Milch und rauen Bergen. Betrachtet von Menschen in Wohnzimmern. Das ist das wilde Kirgisistan der Weltnomadenspiele.

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Viele Besucherinnen sind gekommen, Männer und Frauen aus aller Welt, die meisten jedoch aus Kirgisistan selbst. Viele viele aus Bischkek. Man erfreut sich an den alten Weisen und deren Pflege! Manche jungen Stadterwachsenen mögen auf der Straße zu hören sein, die mehr die Kulisse eines Unterhaltungsparks als ein identitäres und kulturpolitisches Projekt sehen; weit mehr Menschen, jedoch, gehen im Festtagsgewand und lauschen andächtig bis informiert prüfend der Geschichte, die da über sie alle erzählt und gemalt wird. Vor den Augen der Welt soll alles von bester Qualität sein: Stoffe, Jurten, Kymyz, Komuz-Spieler (kleine kirgisische Gitarre/Laute), Pferde, Reiter, Wettkämpfer, das Kök Börü Team.

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Fern Es sind oft die wilden Geschichten, die zu Hause – der Ort, von dem aus ich auf Reisen ging – die gespanntesten Ohren finden. Tote Ziegen, geflochtene Därme, Nächte im Zelt, vergorene Milch, getrockneter Quark, echte Nomaden, Bad im Gletscherbach. Und es sind oft die fremden Geschichten, die wild sind. Weil es schön ist, gespannte Ohren und Augen um sich zu haben, ertappe ich mich immer wieder dabei, von den wilden Dinge am häufigsten zu erzählen. Die Worte strömen auf Küchentische, oder hinein ins Kneipengemurmel, Worte von Kök Börü Regeln, auch wenn die tausend Teeschalen und Kartoffeln und Spaziergänge und Melonen des Alltags viel bedeutsamer waren. Dort, im wilden wilden Kirgisistan.

Von toten Ziegen und vergorener Milch sprechen Fernsehreportagen und Seiten in Reiseführern, weil die großen und spannenden Geschichten und Bilder leichter einfangen und locken, als die kleinen und ruhigen. Auch wenn die kleinen, in denen Menschen Hühner füttern und nicht Männer auf tote Ziegen starren, für mich die volleren sind. Und doch erzählt mein Mund von Wildheit.

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Wilde Ks. Sind es dann nur Geschichten? Nur Themen, die wieder und wieder gehört und erzählt werden wollen? Sind es dann nur Eigenvermarktungen, gezähmte Authentizität, vielleicht, in einem Videoclip oder einem kommerziellen Kinofilm? Sind sie die exotische, romantisierende Brille, die von Deutschland aus gemütlich-fasziniert in archaische Fernen blickt? Nur marktschreierische Motive, die andere Probleme (und Feinheiten) des Alltags aus dem Sichtfeld verdrängen?

Ja und nein. Sie sind Geschichten, die wilden Ks. Und ja, sie sind all das. Aber nicht nur, nicht nur:

Auf den Düjnölük Köchmöndör Ojundary werden Spielformen und Handwerkskünste versammelt und belebt; in den kirgisischen rauen Bergen leben Menschen in Zelten und Jurten; der Werbespot der Spiele wird gelobt; in den Dörfern wird Filz und Kymyz gemacht, es wird Komuz und manchmal Kök Börü gespielt; es wird auf Ziegen gestarrt und Knochenorakel gelesen. Meist alltäglich, manchmal laut. Meist alltäglich, manchmal Identität markierend. Meist alltäglich, manchmal im Lichte kommerziellen Potentials. Beides – wo beginnt da Tradition und wo die Authentizität, wo beginnt bei den Nomadenspielen die Selbstvermarktung und wo die Emanzipation? Beides. Wo haust nun die Wildheit?

Geschichten sind Geschichten, aber sie sind nie nur ’nur‘.

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Köchmön (Nomade) Die Nomadenspiele finden nicht nur im Hippodrom, sondern auch in den Bergen statt: In einem Hochtal, das alle anderen Jahre und Sommertage als Weidefläche genutzt wird. Nun ist das Tal eine Bühne für ein Meer aus Filz und Spiel: Delegierten-Jurten, ‚Länder-Pavillons‘, Tribünen und Liveauftritte.

Und für viele viele ungemeldete Jurten: Familien, die sich mit ihrem Haus zu den Spielen aufgemacht haben, um Schlafplätze, ihre Produkte oder Essen zu verkaufen. Mit den Herden ziehen. Ob Tiere oder Menschen, man zieht durch die Welt mit dem Lebensunterhalt. Was ist nun wild? Wo beginnt Authentizität? Was ist nun Nomadismus?

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 29. November 2016 von in Allgemein, deutsch, schicht #2: ins geflecht, schicht #3: po(i)etik und getaggt mit , , , , , , , , .